Die Religionsgemeinschaft ist streng hierarchisch strukturiert und versteht sich selbst als die einzig legitime „christliche, theokratische Organisation“. An der Spitze steht eine sog. „leitende Körperschaft“, die aktuell aus acht Männern besteht. Das Führungsgremium hat seinen Sitz in der neu erbauten Zentrale in Warwick (USA / New York) und versteht sich als „Offenbarungs- und Verbindungskanal Jehovas“. Den Anweisungen und Bibelinterpretationen der leitenden Körperschaft als „treuer und verständiger Sklave“ ist genau zu folgen.
Ursprünglich sollten alle Zeugen, damals noch Bibelforscher, als „Geistgesalbte“, zu den 144 000 Auserwählten gehören, die zukünftig im Himmel mit Jesus über die Erde regieren werden. Als die Zahl überschritten wurde und es mehr als 144 000 Anhänger und Anhängerinnen gab, wurde die Lehre angepasst. Wer zu den 144 000 zähle, zeichne sich durch besonders starke Frömmigkeit aus. Sie sind die einzigen, die vom Gedächtnismahl nehmen. Nur Gott wisse letztendlich, wer tatsächlich zu den 144 000 gehöre. Das Gedächtnismahl ist eines der wenigen Riten der Zeugen, es wird einmal im Jahr am 14. Nissan gefeiert.
Die Zentrale für Deutschland befindet sich in Selters / Taunus. Hier wurden bis vor kurzem von über tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern pro Jahr mehr als 12 Millionen Bücher und über 100 Millionen Exemplare an Zeitschriften hergestellt. Dem innergemeinschaftlichen Selbstverständnis nach gleicht das Leben und Arbeiten im sog. „Bethel“ in Selters dem Leben in einem Orden. Ein Armutsgelübde ist obligatorisch. In den letzten Jahren gibt es starke strukturelle Änderungen: „Bethel“-Mitarbeiter und -Mitarbeiterinnen wurde gekündigt, das Publikationsvolumen extrem reduziert.
Zeugen Jehovas sind missionarisch sehr aktiv. Es gibt praktisch keinen Ort in Deutschland, an dem nicht missioniert wird. Zu besonderen Anlässen werden sog. „Sonderfeldzüge“ ausgerufen. Dreimal jährlich finden Kongresse statt. Den Höhepunkt bildet der Bezirkskongress mit Teilnehmerzahlen im fünfstelligen Bereich, der als großes Gemeinschaftserlebnis begangen wird.
Es gibt in Deutschland heute noch mehr als 600 „Königreichssäle“; in den letzten zehn Jahren wurde ihre Anzahl aber reduziert. Dort finden wöchentlich zwei Gottesdienste statt, deren Besuch empfohlen wird. Ein Königreichssaal wird von mehreren Gemeinden („Versammlungen“) genutzt, die nach Sprache und Einzugsgebiet getrennt sind. Seit ca. 2006 ist die Anzahl der Versammlungen rückläufig. Sie beläuft sich nach eigenen Angaben in Deutschland auf 2087.
In den wöchentlichen Zusammenkünften werden die Zeugen so einseitig geschult, dass mitunter die Grenzen zwischen Schulung und Manipulation verschwimmen. Das Leben eines Zeugen Jehovas ist durch Vorgaben der leitenden Körperschaft streng geregelt, auch wenn nicht jedes Verbot ausdrücklich in den Publikationen genannt ist: Jehovas Zeugen wissen sehr genau, was erlaubt ist und was Jehova (bzw. die leitenden Körperschaft) nicht wünscht. So ist persönlicher Umgang mit Menschen, die keine Zeugen Jehovas sind, in der Regel zu vermeiden. Die Lektüre kritischer Bücher und erst recht die Lektüre von „Aussteigerliteratur“ gilt als verwerflich. Die Mitgliedschaft in Sportvereinen usw. war lange Zeit verpönt.
Viele Feste (Weihnachten, Geburtstage, Fasching) werden als „heidnisch“ abgelehnt. Parteien, Gewerkschaften u. Ä. werden kritisch gesehen. Viele Jahrzehnte haben Jehovas Zeugen nicht an Wahlen teilgenommen. In jüngster Zeit zeigt man in dieser Frage zwar nach außen Kompromissbereitschaft, es ist jedoch davon auszugehen, dass die kritische Haltung gegenüber dem Staat von vielen beibehalten wird.
Ehe und Familie werden in einer traditionell-patriarchalischen Form hoch geschätzt. Vor- und außerehelicher Geschlechtsverkehr, das Zusammenleben ohne Trauschein und Homosexualität können zum Gemeinschaftsentzug führen. Von Eheschließungen mit Personen, die keine Zeugen sind, wird abgeraten. Auf berufliche Aus- und Weiterbildungen wird kaum Wert gelegt; zu starkes berufliches Engagement würde den Missionierungspflichten im Wege stehen; zudem ist man der Meinung, dass hoch qualifizierte Berufe im Paradies nicht benötigt werden.
Nach langjährigen Rechtsstreitigkeiten ist die Religionsgemeinschaft heute in allen Bundesländern als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt. Allerdings entzünden sich vor allem an drei Fragen immer wieder neue Konflikte und Rechtsstreitigkeiten: Wie kann ein Staat ein Religionsrecht billigen, in dem von sexueller Gewalt betroffene Kinder und Frauen durch die Zwei-Zeugen-Regel zum Schweigen gebracht werden können? Diese Regel besagt, dass der Vorwurf von sexueller Gewalt religionsintern nur dann überprüft wird, wenn ein zweiter Augenzeuge den Missbrauch bestätigt. Ist es hinzunehmen, dass Menschen durch das rigorose Verbot einer Vollbluttransfusion den Tod anderer billigend in Kauf nehmen oder selbst in Lebensgefahr geraten und sterben? Und werden nicht Familien zerstört, wenn Eltern aufgefordert werden, ihre „Jehova-untreuen“ und deshalb aus der Versammlung ausgeschlossenen Kinder zu ächten?