Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Hermann Hesse
Wenn nach erfolgreich abgeschlossener Ausbildung zwei neue Seelsorgerinnen die bischöfliche Beauftragung erhalten, dann überwiegen Freude und Zuversicht im Blick auf die berufliche Aufgabe, die vor ihnen liegt. Die von den beiden Frauen ausstrahlende positive Lebenseinstellung und ihre Einsatzfreude, verbunden mit konkreten Ideen für die Praxis, sind gute Voraussetzungen, um in seelsorglichen Zusammenhängen wirksam zu arbeiten. Ist es erlaubt, an dieser Stelle über den Anfang hinaus zu schauen, dem nach Hermann Hesse ja ein eigener Zauber innewohnt? Was braucht es, damit die beiden auch nach vielen Jahren sagen können, dass ihre Berufsentscheidung die richtige gewesen ist? Und wie kann eine berufliche Laufbahn in der Seelsorge überhaupt gutgehen in Zeiten der kirchlichen Dauerkrise? Dazu einige Gedanken.
Das Wie als Schlüssel
Wenn in Gesellschaft und Kirche „Verhaltenssicherheit“ wegbricht, genügen unsere bewährten Mittel nicht mehr. Es bedarf einer anderen Art der Kommunikation und Auseinandersetzung, um das Evangelium zu bezeugen. Christliche Gemeinde ist in der Krise. Die Errungenschaften in Sachen Menschenwürde und individueller Freiheit lassen es nicht mehr zu, dass die Lebensformen der Menschen durch zentrale Instanzen vereinheitlicht werden. Dabei werden Freiheit und Eigenverantwortung auch von der Theologie als Gottes Zusage an den Menschen begriffen. Gleichwohl sind diese Errungenschaften fragil und ständig gefährdet. Wenn Individualität als Überforderung empfunden wird, neigen Menschen dazu ihre eigene Freiheit und Verantwortung leichtfertig in die Hände von vermeintlichen Autoritäten, Rattenfängern und Demokratiefeinden zu legen. Hier ist Kirche als Anwältin für die Würde und die Wachstumschance eines jeden Menschen gefragt.
Seelsorge erschöpft sich nicht darin, die Botschaft des Glaubens in idealisierter Form zu predigen, sondern in konkreten Lebensbezügen sichtbar zu machen, was wir unter einem menschenfreundlichen Gott verstehen. Seelsorgerinnen und Seelsorger arbeiten weniger „für“ die Menschen als „mit“ ihnen und tragen so dazu bei, dass diese ihre eigenen Stärken erkennen und zugleich die Würde anderer Menschen achten können. Auf diese Weise zu arbeiten, erfordert Vertrauen in das Potenzial von Menschen.
Verschwimmendes Innen und Außen
In einer einheitlich scheinenden Kirche gibt es individuelle Abweichungen überwiegend nur unter der Oberfläche. Die allgemeine Kirchenmitgliedschaft und -praxis vergangener Zeiten darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Diversität immer gegeben hat. Allerdings stellen die heute offen gelebten Brüche gegenüber Kirche und Glaubenslehre die Frage nach dem Innen und Außen neu: Wer ist diese Kirche? Sind es die kirchensteuerzahlenden Mitglieder? Oder speziell die praktizierenden? Auch die aus Enttäuschung Ausgetretenen, die dennoch weiter für das Evangelium einstehen? Was ist mit denen, die nur Teile des Glaubensbekenntnisses aus vollem Herzen mitsprechen können? Und inwieweit dürfen wir es bewerten, wenn viele nur zu bestimmten Lebensereignissen kirchlichen Segen wünschen?
Manches erinnert an die Zeit der kirchlichen Anfänge, als die Frage des Innen und Außen ebenfalls nicht eindeutig war. In dem Maß, in dem wir lernen, die Komplexität menschlichen Lebens anzuerkennen, sollten wir uns vor einem zu engen Begriff von Kirche hüten. Vielleicht weiten die verschwimmenden Grenzen unseren Blick, und der Seelsorgeberuf fühlt sich zum Erkunden herausgerufen, um gemeinsam mit allen Menschen guten Willens die Spuren Gottes in der Welt zu entdecken und sichtbar zu machen. Mit solchen uneindeutigen Strukturen zu arbeiten erfordert Vertrauen in das Potenzial der Kirche.
Mit geerdetem Gottvertrauen
Seelsorge funktioniert nicht so, dass genormte Mustersituationen nach vorgefertigten Verfahrensrichtlinien abgearbeitet werden. Dabei sind die Aufgaben durchaus klar beschrieben: Nächstenliebe fördern (Diakonie), den Glauben plausibel kommunizieren (Verkündigung) und angemessen feiern (Liturgie) sowie gelingende Gemeinschaft initiieren (Koinonia). Was das für unsere Gegenwart heißt, hat die Trierer Bistumssynode mit ihrem Votum für eine diakonisch-missionarische Kirche in Verbindung mit den beschriebenen Perspektivwechseln skizziert. „Vom Einzelnen her denken“ und „Charismen vor Aufgaben in den Blick nehmen“ erfordert, dass ich mich den Realitäten der Menschen ehrlich aussetze, um zu lernen, was mein Beitrag sein kann. Diese Demut geht einher mit der eingestandenen Ohnmacht, dass ich als Seelsorgerin und Seelsorger nichts erzeugen kann. In dieser Art von „Kenosis“ (Entäußerung, vgl. Phil 2,7) zu arbeiten erfordert echtes Gottvertrauen.
Vertrauen in Gottes Wirken, in die Entwicklungsfähigkeit der Kirche und in das Potenzial der Menschen – das könnten Signaturen künftiger Nachfolge und damit künftiger Seelsorge sein. Sie beschreiben Haltungen, die (hoffentlich) über den Zauber des Anfangs hinaus im seelsorglichen Alltag Raum greifen und über Durststrecken hinweg zu tragen vermögen.